Deutschlands wahre Herausforderungen sind Überalterung, zu wenig Investitionen und zu viel Bürokratie

1. April 2024

Deutschland steht vor einer Reihe großer wirtschaftlicher Herausforderungen, die aber nicht zwangläufig die größte Beachtung erhalten. Die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert ehrgeizige Reformen

Deutschland befindet sich in der Krise. Es ist das einzige Land der G7, dessen Wirtschaft im vergangenen Jahr geschrumpft ist, und dürfte unseren jüngsten Prognosen zufolge auch dieses Jahr wieder das niedrigste Wachstum der G7-Staaten verzeichnen. Einige Experten sind der Meinung, Deutschlands Wirtschaftsmodell sei irreparabel kaputt. Sie behaupten, das starke Wachstum der letzten Jahrzehnte basierte auf den billigen Gasimporten aus Russland, die ihrerseits die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie gestärkt hätten. Jetzt, wo das billige Gas nicht länger verfügbar ist, funktioniere das deutsche Industriemodell nicht mehr, heißt es.

Doch stimmt das? Wahr ist sicherlich, dass die Einstellung der russischen Gaslieferungen im Jahr 2022 zum Anstieg der Inflation und der Lebenshaltungskosten beigetragen hat. Allerdings erwies sich der Anstieg der Gaspreise als temporär. Nach dem Anstieg der Großhandelsgaspreise 2022 liegen sie mittlerweile wieder auf dem Niveau von 2018.

Allgemeine Kennzahlen zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zeichnen ein ähnliches Bild und signalisieren eine deutliche Erholung: Deutschlands Terms of Trade (Verhältnis von Ausfuhrwerten zu den Einfuhrwerten) liegen wieder auf demselben Niveau wie vor dem Energiepreisschock. Und Deutschlands Handelsbilanzüberschuss betrug im vergangenen Jahr 4,3 Prozent des BIP – ein Wert, der zwar hinter den übermäßig hohen Überschüssen der Vor-Corona-Jahre zurückbleibt, doch über dem Durchschnitt der letzten zwei Jahrzehnte liegt – und dieses Jahr weiter steigen dürfte.

 

Sorgen um eine fortgeschrittene Deindustrialisierung sind gleichermaßen übertrieben. Die energieintensive Chemie-, Metall- und Papierindustrie sind zwar geschrumpft, sie machen allerdings nur 4 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Im Gegensatz dazu verzeichnete die Pkw-Produktion im vergangenen Jahr ein Wachstum von 11 Prozent. Deutschlands Hersteller von Elektroautos setzen auf die Energiewende. 2023 stiegen Deutschlands Ausfuhren von E-Autos um 60 Prozent. Gemäß den verfügbaren Daten zweier deutscher Hersteller, Volkswagen und BMW, beträgt deren Anteil an den weltweiten E-Autoverkäufen über 10 Prozent.

 

Deutsche Produzenten passten sich auch an die Energiekrise und die Lieferkettenstörungen an, indem sie Produkte mit höherem Mehrwert erzeugten und weniger Zwischenprodukte einsetzten. Greg Fuzesi von J.P. Morgan und andere kommen zu dem Schluss, dass der in der Produktion geschaffene Mehrwert stabil geblieben ist, obwohl die industrielle Produktion gesunken ist. Anders ausgedrückt: Die industrielle Produktion ist als Messgröße für die gesamte wirtschaftliche Leistung einer Volkswirtschaft inzwischen weniger gut geeignet.

 

Warum ist die deutsche Wirtschaft also so schwach? Neben temporären gibt es auch einige eher strukturelle Faktoren, die eine Rolle spielen. Ein temporärer Faktor war der Einfluss der steigenden Inflation auf den Konsum, als die Verbraucher ihre Einkäufe reduzierten. Um zu verhindern, dass die höhere Inflation sich verfestigt, erhöhte die Europäische Zentralbank auch die Zinsen, was wiederum die Bautätigkeit und andere zinssensitive Sektoren belastete. Ungünstig für die von der Industrie geprägte Wirtschaft Deutschlands war auch die Verschiebung der globalen Nachfrage weg von Industriegütern hin zu Dienstleistungen.

Die gute Nachricht lautet, dass diese temporären Gegenwinde im Laufe der nächsten ein oder zwei Jahre allmählich nachlassen sollten.

Die schlechte ist: Ohne Reformen dürfte der eher fundamentale strukturelle Gegenwind – schleppendes Produktivitätswachstum – anhalten, während ein anderer – die Überalterung der Bevölkerung – sich deutlich verschärfen wird.

Deutschland produktiver machen

Diese fundamentalen Gegenwinde sind die größten Hindernisse, die Deutschland im Hinblick auf eine Verbesserung seiner mittelfristigen Wachstumsaussichten zu überwinden hat.

 

Deutschlands Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist in den letzten zehn Jahren durch Einwanderung gewachsen. Es handelte sich dabei hauptsächlich um Flüchtlinge, die vor regionalen Konflikten flohen. Mit dem Abebben dieser Flüchtlingswelle und der Pensionierung der Babyboomer in den kommenden fünf Jahren wird das Wachstum der Erwerbsbevölkerung in Deutschland stärker zurückgehen als in den übrigen Ländern der G7. Dies wird Abwärtsdruck auf das BIP pro Person ausüben, denn auf jeden Rentner kommen weniger Erwerbstätige. Ohne Reformen wird dies auch zu höheren Sozialversicherungsbeiträgen gepaart mit niedrigeren Renten führen. Außerdem lässt eine zunehmend alte Bevölkerung die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen steigen, wodurch Arbeitskräfte aus anderen Branchen abgezogen werden. Ein Mangel an Arbeitskräften könnte auch Investitionen verhindern.

Eine stärkere Zuwanderung könnte ein wirksames Mittel sein, um diesen Faktoren entgegenzuwirken. Die Aussichten dafür sind jedoch ungewiss.

Deutschland könnte sein Arbeitskräfteangebot auch dadurch erhöhen, indem es Frauen eine Ausweitung des Arbeitszeitvolumens erleichtert. Es gibt 2,3 Millionen weniger erwerbstätige Frauen als Männer, und die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen in Teilzeit arbeiten, ist fünf Mal höher. Ein verbesserter Zugang zu verlässlicher Kinderbetreuung und weniger Steuern für Zweitverdiener bei Ehepaaren könnte helfen, diese Lücken zu schließen.

Eine andere Lösung besteht darin, die Produktivität zu steigern, die durch unzureichende Investitionen in die öffentliche Infrastruktur beeinträchtigt wurde. Öffentliche Investitionen waren in den 1990er-Jahren rückläufig und sind seitdem gerade so ausreichend, um die Abschreibungen auszugleichen. In Bezug auf öffentliche Investitionen schneidet Deutschland im Vergleich zu anderen Industrieländern eher schlecht ab. Für Investitionen vorgesehene Mittel werden regelmäßig nicht ausgeschöpft, was häufig auf Personalmangel in den Kommunen zurückzuführen ist. 

 

Um öffentliche Investitionen anzukurbeln, könnte Deutschland die Planungskapazitäten der Kommunen durch Beratungsprogramme wie Partnerschaft Deutschland ausweiten. Deutschland könnte die Finanzierung öffentlicher Investitionen durch die Umgestaltung anderer Ausgaben, die Mobilisierung zusätzlicher Einnahmen oder die Anpassung der Schuldenbremse für die Kreditaufnahme des Bundes erhöhen, wie in unserem jüngsten Stabsbericht erläutert. Die Schuldenbremse könnte um rund 1 Prozent des BIP gelockert werden, ohne den Rückgang der öffentlichen Verschuldung im Verhältnis zum BIP zu verhindern.

Die Produktivität könnte auch durch den Abbau von Bürokratie gesteigert werden, die ein Hindernis für Investitionen und Unternehmensgründungen darstellt. So dauert es beispielsweise etwa fünf bis sechs Jahre, bis die Genehmigung für den Bau eines Onshore-Windparks erteilt wird. Und es dauert 120 Tage, um eine Lizenz für den Betrieb zu erhalten, mehr als das Doppelte des OECD-Durchschnitts.

Die Digitalisierung von Behördendiensten könnte ebenfalls zu einer Beschleunigung der Prozesse führen. Verglichen mit anderen EU-Ländern hinkt Deutschland bei der Bereitstellung von Online-Diensten für Unternehmen, einschließlich Registrierung und Steuererklärung, hinterher. So sind beispielsweise nur 43 Prozent der Online-Formulare für Behörden mit personenbezogenen Daten vorausgefüllt, während der EU-Durchschnitt bei 68 Prozent liegt.

Deutschland steht vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen, aber es verfügt auch über politische Hebel, um diese zu bewältigen und eine bessere wirtschaftliche Zukunft zu schaffen. Es ist an der Zeit, diese zu nutzen.

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Kevin Fletcher ist Assistant Director und Harri Kemp und Galen Sher Ökonomen in der Europaabteilung des IWF.