Gemeinsamen Wohlstand sichern: Das nächste Kapitel in der Einheit Europas

14. Februar 2019

Einführung

Guten Abend!

Zunächst einmal möchte ich Herrn Dr. Waigel für die liebenswürdige Einführung und allen im Vorstand der Münchner Europa Konferenz für diese Einladung danken. Es ist mir eine Ehre, heute Abend bei Ihnen zu sein.

Und natürlich möchte ich es nicht versäumen, Ihnen allen einen schönen Valentinstag zu wünschen. Ich hoffe, dass Ihre Vorstellung von einem romantischen Abend aus Gesprächen über die Vorteile einer wirtschaftlichen Annäherung besteht. Denn das steht heute Abend auf dem Programm.

Außerdem können wir heute Abend einen weiteren Meilenstein feiern: Wie Sie alle wissen, wird es im November 2019 30 Jahre her sein, dass die Berliner Mauer gefallen ist. Und zu diesem Jahrestag möchte ich eine Frage stellen. War der Fall der Berliner Mauer ein Anfang, ein Ende oder die Mitte des Weges? Denken Sie darüber nach.

Was ist ein Anfang? Anfänge sind voll von Optimismus, versprechen etwas Neues. Eine Zeit, in der man daran arbeitet, dass die Zukunft rosiger ist als die Vergangenheit. So könnte man das Gefühl beim Mauerfall sicherlich beschreiben.

Das Ende. Was ist ein Ende? Der Moment, wo man hoffentlich die Früchte seiner Arbeit ernten kann. Das Ende kann der Zeitpunkt sein, an dem eine Idee Wirklichkeit wird. Auch damit lässt sich der Fall der Berliner Mauer beschreiben.

Doch wie steht es mit der Mitte? Die Mitte ist mit Arbeit, Mühen und Opfer verbunden. Sie bedeutet, dort eine gemeinsame Grundlage zu finden, wo es scheinbar keine gibt. Und das ist wohl auch eine gute Beschreibung für das, was der Fall der Berliner Mauer für Europa bedeutete – und für die Welt.

Behalten Sie diese Frage im Hinterkopf. Am Ende meiner Ansprache haben wir vielleicht eine bessere Vorstellung davon, wie die Antwort aussehen könnte.

Ich möchte mit dem Thema der diesjährigen Konferenz beginnen: Europe works – Europa wird, weil Europa trotz bekannter Schwierigkeiten funktioniert, ziemlich gut sogar. Und es ist wichtig, dass wir diesen Erfolg anerkennen. Geschichte ist wichtig. Man pflanzt keine Schnittblumen.

Dann möchte ich einen Blick auf das nächste Kapitel in der Geschichte Europas werfen. Die Herausforderungen, mit denen die Europäische Union heute konfrontiert ist, erfordern ein Bekenntnis zum Multilateralismus und zu Einheit, aus dem die EU überhaupt erst entstehen konnte. Das trifft ganz besonders auf den Bereich zu, auf den ich meinen Schwerpunkt legen möchte: die Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Annäherung.

I. Der wirtschaftliche und politische Erfolg der Europäischen Union

Zunächst ein bisschen Geschichte. Wir schreiben das Jahr 1949. Die europäische Wirtschaft versucht nach Kräften, sich vom Krieg zu erholen. Millionen von Menschen sind noch immer ohne Arbeit. Hunderttausende von Flüchtlingen sitzen in Auffanglagern. In München gleichen viele Straßen noch einem Trümmerfeld.

Und jetzt im Schnelldurchlauf siebzig Jahre später. Die Europäische Union zählt mehr als eine halbe Milliarde Bürger und ist die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Und der weltweit größte Handelsblock. Wenn man die Länder berücksichtigt, mit denen die EU Freihandelsabkommen unterhält – einschließlich der neuen Abkommen mit Kanada und Japan – macht der Handelsblock mittlerweile mehr als ein Drittel des weltweiten BIP aus.

Und morgen werden führende Politiker aus aller Welt in dieser Stadt zusammenkommen, um gemeinsam Fragen der internationalen Sicherheit zu erörtern.

Wie haben wir es so weit gebracht? Mit Mut und Schaffenskraft.

Das Versprechen der EU war seit jeher wirtschaftlicher und politischer Art. Ihre Gründer waren überzeugt, dass der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital dazu führen würde, dass die Volkswirtschaften miteinander verflochten sind, und damit zu gemeinsamem Wohlstand und Frieden.

Dieses Versprechen ging zum großen Teil in Erfüllung. Von den Vierziger- und Fünfzigerjahren, als der Marshall Plan einen vom Krieg zerrütteten Kontinent wieder aufbauen half, über den Übergang von Diktaturen zu Demokratien im Süden Europas während der Siebzigerjahre bis hin zum Ende des Eisernen Vorhangs und zum wirtschaftlichen Wandel in Osteuropa während der Neunzigerjahre.

Die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und die Einführung des Euro waren zwei historische Schritte auf dem Weg zu einem geeinten Europa. Deutschland spielte dabei eine ebenso einzigartige wie prägende Rolle.

Wie Dr. Waigel bekanntlich sagte: „Deutschland brachte die D-Mark nach Europa“ und trug damit zur Entstehung des Euro bei.

Durch unsere Geschichte zieht sich also ein roter Faden: Die Verschmelzung politischer und wirtschaftlicher Geschicke ist ein unglaublich schwieriges, aber lohnendes Unterfangen. Dabei ist die Entflechtung ein ebenso schwieriges Unterfangen wie die erfolgreiche Verschmelzung. Und es kann nur funktionieren, wenn ganz Europa erfolgreich ist. Dazu braucht es wirtschaftliche Annäherung.

Was genau bedeutet „Annäherung“?

Einfach gesagt, bedeutet es, dass die Einkommen der ärmeren Länder sich dem Niveau der reicheren Nachbarn annähern.

Denken Sie an die letzten zwanzig Jahre.

In dieser Zeit veranlasste die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft ehemals kommunistische Länder zu marktwirtschaftlichen Reformen und zum Aufbau von Institutionen, die ihr wirtschaftliches Potenzial freisetzten.

Von 1993 bis 2017 hat sich das reale Pro-Kopf-Einkommen in der Tschechischen Republik, in Ungarn und Slowenien nahezu verdoppelt.

In der Slowakischen Republik, in Estland und Polen ist es um mehr als das Zweieinhalbfache gestiegen.

Und in Lettland und Litauen hat es sich mehr als verdreifacht.

Der IWF hat seine Rolle in dieser Übergangsphase gern übernommen. Wir entwickelten damals ein neues Kreditinstrument, das speziell auf die Bedürfnisse der ehemals kommunistischen Länder zugeschnitten war.

Erfolg gebiert Erfolg.

Die neuen Mitgliedstaaten implementierten Reformen für ihren EU-Beitritt, und das machte sie für Investoren aus den ursprünglichen EU-Ländern attraktiv.

Und so kam es zu einer tiefen Integration der europäischen Volkswirtschaften mit hochkomplexen Lieferketten in Europa.

Das Engagement der neuen Mitgliedstaaten zahlte sich für alle EU-Mitglieder aus.

Von Mitte der 1990er bis 2007 verdoppelte sich das reale Pro-Kopf-Einkommen in den neuen Mitgliedstaaten, während die ursprünglichen EU-Mitglieder einen Anstieg von 42 Prozent verzeichneten.

Die weltweite Finanzkrise allerdings brachte den Fortschritt in Europa vorerst zum Stillstand.

Überleben wurde wichtiger als Annäherung. Die Europäische Union rückte – richtigerweise – zusammen, um sich selbst zu retten.

Aber die Notwendigkeit für Annäherung verschwand nicht. Jetzt ist es an der Zeit, sie wieder in den Mittelpunkt zu rücken.

Warum? Weil Europa wieder einmal an einem entscheidenden Moment angelangt ist.

II. Die neuen Herausforderungen auf dem Weg zur europäischen Einheit

Seit einigen Jahren stellen populistische Bewegungen den grundlegenden Wert von Integration infrage.

Die Migration aus Nahost und Nordafrika schürt Befürchtungen über kulturelle Identität und Sicherheit.

Die regelbasierte globale Handelsordnung – eine maßgebliche Quelle für das globale Wachstum der letzten 60 Jahre – steht unter beispiellosem Druck.

Und die nächste Generation des Kontinents, die noch immer von den wirtschaftlichen Narben der weltweiten Finanzkrise gezeichnet ist, sucht einen hochwertigen Arbeitsplatz und eine stabile Zukunft. 1 von 4 jungen Menschen in der EU ist heute armutsgefährdet.

Damit diese Herausforderungen gemeistert werden können, brauchen wir ein neues Versprechen für gemeinsamen Wohlstand in Europa.

Erste neue Impulse sind bereits zu erkennen.

Die EU erinnert die Welt jeden Tag daran, dass sie für freien und fairen Handel steht, Multilateralismus verteidigt und nach Wegen zum Abbau von Ungleichheit sucht, die so viel Zwietracht verursacht.

In diesem Zusammenhang denke ich an die Worte von Helmut Kohl, der sagte, dass alle Europa brauchen, nicht nur wir in Europa.

In der heutigen Welt, in der der Wert internationaler Kooperation infrage gestellt wird, braucht die Welt Europa mehr denn je.

Vorerst aber muss Europa daheim erfolgreich sein.

Dafür muss Europa die wirtschaftliche Annäherung dort, wo sie ins Stocken geraten ist, wieder in Gang setzen.

Im Gegensatz zur kontinuierlichen Annäherung der Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa begann die Annäherung zwischen den südlichen und nördlichen Ländern des Euroraums in den letzten zwanzig Jahren zu stagnieren. Und die Krise hat die Lage noch verschlechtert.

In den fünf Ländern des südlichen Euroraums, die von der Krise am stärksten betroffen waren, war das durchschnittliche Jahreswachstum des realen Pro-Kopf-Einkommens von 2008 bis 2017 de facto negativ.

Unser Ziel sollte demnach klar sein: Wiederaufnahme der Annäherung und allgemeine Teilhabe an den Vorteilen des Wirtschaftswachstums in der EU. Damit lässt sich das Vertrauen in das Projekt Europa wiederherstellen.

Laut Forschung des IWF können Reformen an den Produkt- und Arbeitsmärkten erheblich zur Produktivität beitragen, insbesondere in ärmeren Ländern.

Wir wissen, das wird nicht leicht. Aber wie bei jedem schwierigen Unterfangen seit dem Krieg wird die harte Arbeit langfristig zu Frieden und Wohlstand beitragen.

III. Neustart der Annäherung durch Strukturwandel

Es gibt drei Reformbereiche, auf die ich heute Abend eingehen möchte. Die EU kann in jedem Bereich eine unterstützende Rolle spielen, kann aber bewusst nur bei nationalen Reformbestrebungen helfen.

Wir können aus den Worten des ehemaligen Präsidenten der EU-Kommission Jacques Delors lernen: „Das Modell Europa ist gefährdet, wenn wir das Prinzip der persönlichen Verantwortung ausschalten.“

Die Europäische Gemeinschaft als Ganzes lässt sich nur stärken, wenn jede Nation ihr eigenes Haus in Ordnung bringt.

Welche Art von Reformen sind notwendig?

Arbeitsmärkte

Allen voran die Arbeitsmärkte. In vielen südlichen Ländern des Euroraums ist die Arbeitslosigkeit viel zu hoch, insbesondere unter jungen Menschen.

In Italien, Griechenland und Spanien liegt die Gesamtarbeitslosigkeit zwischen 10 und 20 Prozent. Unter jungen Menschen beträgt sie jedoch mehr als 30 Prozent.

Im Vergleich dazu liegt die Arbeitslosigkeit in den nördlichen Ländern des Euroraums wie Deutschland und den Niederlandes insgesamt unter 4 Prozent, und die Jugendarbeitslosigkeit beträgt weniger als 7 Prozent.

Einerseits sind fehlende Investitionen in Bildung und Berufsausbildung ein entscheidender Faktor, andererseits besteht auch das Problem der Beschäftigungsflexibilität. Bei der Auftragsvergabe und der Einstellung und Kündigung von Mitarbeitern sind die Unternehmen mit unnötigen Hindernissen konfrontiert.

Wenn man diese Herausforderung angeht, kann man die Beschäftigungsaussichten für alle Bürger verbessern – vor allem für junge Leute, die erste Erfahrungen in der Arbeitswelt sammeln oder ihre Karriere voranbringen wollen.

In Portugal beispielsweise brachten jüngste Arbeitsmarktreformen den Unternehmen mehr Flexibilität. Deshalb sind Unternehmen jetzt eher bereit, neue Mitarbeiter einzustellen und ihnen unbefristete statt befristete Verträge zu bieten.

Die Reformen greifen. In Portugal ist ein Großteil des starken Beschäftigungswachstums der letzten Jahre auf unbefristete Stellen zurückzuführen.

Geschäftsklima

Im zweiten wichtigen Bereich geht es darum, das Geschäftsklima für Investoren attraktiver zu gestalten.

Auch hier verzeichnen wir Fortschritte in Portugal. Mitte der Nullerjahre dauerte hier eine Firmengründung fast einen ganzen Monat. Jetzt braucht man dafür weniger als fünf Tage.

Wir können noch so viel mehr tun.

In vielen anderen Ländern im Süden des Euroraums gibt es reichlich Spielraum zum Abbau von Wettbewerbshindernissen, etwa bei professionellen Dienstleistungen und im Einzelhandel.

Eine Hürde für Investitionen, insbesondere grenzüberschreitende Investitionen, sind die Kosten und der zeitliche Aufwand eines Insolvenzverfahrens.

Die heutigen Standards in Europa sind sehr unterschiedlich. Die Abwicklung einer Firmeninsolvenz in Griechenland dauert zum Beispiel rund neunmal länger als in Irland.

Die Modernisierung und Harmonisierung von Insolvenzregeln fördert Investitionen und neue Arbeitsplätze.

Investitionen in Innovation

Der dritte und letzte Bereich betrifft Ausgaben für Innovation. Unzureichende Investitionen in Innovation sind in den südlichen Ländern des Euroraums ein Problem.

Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Italien, Portugal und Spanien lagen von 2000 bis 2014 im Durchschnitt knapp über 1 Prozent des BIP.

Das ist weniger als die Hälfte der F&E-Ausgaben von Ländern wie Deutschland und Frankreich.

Um Innovationen anzukurbeln, bedarf es einer Reihe von Reformen, darunter die Förderung von Wagniskapital-Finanzierungen oder eine verbesserte Kooperation zwischen öffentlichem und privatem Sektor im F&E-Bereich.

Und das kann sich lohnen. In Italien könnte ein besserer Zugang zu Finanzmitteln für Innovation und mehr öffentliche Unterstützung für F&E das BIP langfristig um 5 Prozent anheben. Das würde einen Anstieg des durchschnittlichen Realeinkommens der Arbeitnehmer um rund 2.000 Euro pro Jahr bedeuten. [1]

Dies sind die drei Kernbereiche, in denen die Länder selbst für Fortschritt sorgen können: Arbeitsmärkte, Geschäftsklima, Investitionen in Innovation. Welche Rolle spielt die EU dabei?

Die EU kann den Ländern mit technischer Hilfe und Beratung bei der Umsetzung von Reformen helfen. Sie kann im nächsten EU-Haushalt auch mehr Mittel für die Unterstützung von Reformen und Innovation vorsehen.

Und, vielleicht am wichtigsten: Die EU kann weiterhin die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Ländern fördern und dafür sorgen, dass keine neuen Barrieren errichtet werden.

Wie ich bereits sagte: Erfolg gebiert Erfolg.

Indem die EU die Vertrauensbeziehungen unter den Mitgliedstaaten stärkt, kann der Fortschritt bei einer ganzen Reihe politisch schwieriger Unternehmungen beschleunigt werden. Von einer besseren Wirtschaftsarchitektur in Europa bis hin zur Erfüllung der äußerst wichtigen Versprechen des Pariser Klimaabkommens.

So können wir neue Chancen für alle Bürger Europas schaffen und gleichzeitig Stabilität für die nächste Generation gewährleisten.

Schlussbemerkung

Kehren wir also zu meiner einleitenden Frage zurück. War der Fall der Berliner Mauer ein Anfang, die Mitte des Weges oder ein Ende?

Ich würde sagen, alle drei. Es war eine Zeit neuer Hoffnung, der Höhepunkt von dreißig Jahren Arbeit und die Herausforderung des Wiederaufbaus.

Dasselbe gilt für diesen Augenblick in Europa.

Die heutige Zeit erfordert Mut und Schaffenskraft.

Heute Abend habe ich französische und deutsche Politiker zitiert. Im Sinne der Einheit möchte ich nun mit dem Zitat eines Briten schließen.

Churchill sagte einmal: „Dies ist nicht das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist vielleicht das Ende des Anfangs.“

Wenn sich die Europäische Union auf ihre Wurzeln besinnt und mit gemeinsamem Wohlstand einen Weg nach vorn findet, werden wir vielleicht eines Tages auf 2019 als den Beginn eines vielversprechenden neuen Kapitels in der Geschichte Europas zurückblicken.

Ich danke Ihnen.



[1] European Commission: Exploring Italy’s Growth Challenge, A Model Based Exercise, 22. Dezember 2016.

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